Von Pauline Selbig & Malte Waider
„[D]ie Menschen, die wir sein wollen, es gibt sie nicht“, rappt der Künstler Curse im Song Bei mir. Diese Liedzeile ist ein erkennender Ausweg. Denn Bei mir breitet einen Teufelskreis der Sehnsucht aus nach dem perfekten Leben der anderen, das umso schillernden erscheint, je eindrücklicher man – sich selbst daran messend – dieses idealisiert: „Ich kann nicht wie die anderen sein, Topmodell mit Doktortitel, Tierschützer mit Angelschein“ (Curse: Bei mir. In: Die Farbe von Wasser. Genius 2018.).
Curse erkennt: Das verhältnislose Streben nach Eigenverbesserung im Sinne eines überindividuellen Ideals steht im Konflikt mit der liebevollen Anerkennung des eigenen Selbst. Diese Erkenntnis erreicht glücklicherweise die Mitte der Gesellschaft zusehends. Sie wird derzeit in Stimmen laut, die mit Hilfe des negativ besetzten Begriffs der ‚Selbstoptimierung‘ diese Entwicklung kritisieren.
Unbeachtet bleibt dabei jedoch der Wortgrund, auf dem diese Kritik baut. Denn betrachten wir beide Begriffe einmal genauer, den des Optimums einerseits und den des Ideals andererseits, zeigen sich uns zwei Konzepte, die einander streng genommen entgegenstehen. Das Ideal, von griech.-lat. idea, ist die Idee, das ideale Wunschbild, das uns zu erstreben lockt. Es kann und liegt oft außerhalb unserer selbst, denn es ist nur bedingt an reale Umstände gebunden. Es ist eine Vorstellung. Das Optimum hingegen ist ein Kompromiss innerhalb eines Systems. Es ist der günstigste Aspekt einer konkreten Anwendung und damit immer schon an Gegebenes gebunden. Im Falle der Selbstoptimierung, wie der Begriff es schon sagt, an das Selbst, die Möglichkeiten des konkreten Individuums.
"Es fehlt: Durchatmen, Realisierung des eigenen in uns schlummernden Potenzials.“
Das unter dem Begriff der Selbstoptimierung kritisierte Gesellschaftsbild: Wachstum über die (verborgenen) inneren Bedürfnisse und Grenzen hinaus ist also genau genommen ein Gesellschaftsbild, das sich am Ideal orientiert und eben nicht am Optimum. Denn bezogen auf den individuellen Körper zielt diese Orientierung auf ein Messen und Gemessenwerden an vermittelten überindividuellen Werten – beispielsweise Esstrends oder Schönheitsvorstellungen. Durch die Massenmedien vermittelt, werden diese oft wie Raster über das eigene Leben, den eigenen Körper gelegt. Bei diesen Rastern handelt es sich zumeist um bewunderte Ausnahmen oder punktuell positive Erlebnisse: Urlaubsbilder, besondere Körpertransformationen, der Genuss von Luxusgüter u.s.w.. Diese werden aber nicht länger als Ausnahmen, bzw. beschönigte Ausschnitte wahrgenommen, sondern (und das nicht selten zu Werbezwecken) als Demonstration dafür, was jede/r sein kann, hat diese/r nur den nötigen Willen und die finanziellen Ressourcen dazu.
Das eigene Selbst kann hier oft nicht anders, als defizitär empfunden werden. Denn auch wenn es die Werbung anders verspricht, ein Muskelshirt von Under Armer macht aus Klaus von nebenan noch kein The Rock. Stattdessen schafft eine solche Orientierung am unerreichbar idealisierten Körper bzw. Leben dauerhaft unzufriedene Individuen und damit allzeit willige Käufer. Denn das erträumte Ideal bleibt als Versprechen immer in Aussicht, solange man weiter konsumiert, praktisch aber nahezu unerreichbar. Basis der daraufhin wachsenden Unzufriedenheit ist also, dass die realen Bedingungen, die eigenen Anlagen außer Acht gelassen werden.
Es fehlt: Durchatmen, Realisierung des eigenen in uns schlummernden Potenzials. Es fehlt Selbstoptimierung im eigentlichen Sinne des Wortes; Selbstoptimierung als Entwicklung in Auseinandersetzung mit dem Selbst und seine Entfaltung; eine Entfaltung im Hinblick auf die einzigartige Möglichkeit und Wirklichkeit des Selbst.
"Der Mensch ist Wachstum in Form“
Betrachten wir das Konzept der Selbstoptimierung einmal jenseits der Negativbewertung, als das es zur nachvollziehbaren Kritik an Schönheitswahn, Life-style-Apps und Gesundheitsmoden derzeit im Diskurs genutzt wird.
Ist Optimierung, ist Wachstum an sich schlecht? Der Mensch ist Wachstum in Form, bedenkt man seine Entwicklung aus der Embryologie heraus. Auch die Formung des eigenen Selbst im Hinblick auf ein Optimum, sprich als Kompromiss zwischen einer Voraus- und einer Zielsetzung, ist der einzig zu beschreitende Weg bei der schwierigen und unbedingt positiv zu bewertenden Arbeit am Selbst.
Eine Kritik des Optimierens muss vielmehr der kritischen Betrachtung des an äußeren orientierten und unnötig idealisierten Werten des Wachstums gelten.
Hier kann die moderne Osteopathie ansetzen. Sie kann teilhaben an der benötigten Verschiebung von der gesamtgesellschaftlichen Tendenz der Orientierung an Idealisierung hin zur realitätsverankerten Optimierung.
Die Hauptaufgabe moderner Osteopathen immerhin ist ein zu gelingender Spagat zwischen der liebevollen Anerkennung des Menschen im "Ist-Zustand" und dem Fordern und Fördern seiner inneren Kräfte nach äußeren Möglichkeiten. Osteopathen sind somit strukturell konfrontiert mit derselben Herausforderung, vor die sich Patienten gestellt sehen, die in Idealvorstellungen dem eigenen Selbst gegenüber verhaftet sind. Denn damit Patienten sich nachhaltig entwickeln und ihre Selbstheilungskräfte angesprochen werden können, muss das Bewusstsein für die Akzeptanz ihres Selbst – also der einzigartigen Einheit von Körper, Geist und Seele – und dessen Möglichkeiten geschaffen werden. Von Therapeutenseite jedoch kann dieses wiederum nur eröffnet, nur spürbar gemacht werden durch behandelndes „Nicht-Bewerten" und „Nicht-Urteilen“. Auf diesem Wege können Patienten zur Selbstliebe, Selbstheilung und Akzeptanz eingeladen werden. Die Chance moderner Osteopathie liegt demnach darin, gesellschaftliche Tendenzen wie die der Selbstoptimierung aufzugreifen und mit einem Fokus auf das Selbst einen Weg der Besinnung zum Selbst-Gefühlt aufzuzeigen. Denn die Osteopathie ist eine Praxis, bei der Patienten Möglichkeiten des liebevollen Umgangs mit dem Selbst als Prozess der Optimierung innerhalb einer Therapie vorgeführt werden können.
"Der Unterschied zwischen Toleranz und Akzeptanz ist der zwischen Hinnehmen und Annehmen"
Und genau diesen liebevollen Umgang brauchen wir gesellschaftlich dringend. Nur zu oft belastet der Gedanke: „Ich bin nicht gut genug“ unseren Alltag und vergiftet unser Miteinander. Er lähmt die Entfaltung eigener Potenziale, sorgt für Selbstausbeutung und Vereinsamung. Das Gefühl für das Selbst und die Realität des eigenen Körpers zu schaffen und das gerade in Arbeit am Selbst, kann der treibenden und manipulierenden Angst, nicht gut genug zu sein, entgegenwirken.
Diese Arbeit als positive Selbstoptimierung verstanden, hat gesellschaftliche Konsequenzen. Klaus von nebenan bleibt auch im Muskelshirt von Under Armer Klaus und das ist ein Glück so. Denn wer seine Realität akzeptiert und nicht länger idealisiert, erlebt, dass es keine normierten Körper gibt. Dem Gegenüber wertschätzend zu begegnen und dabei das Wunderbare zu sehen, das jede Person mitbringt, ist ein Akt der Akzeptanz. Er ist gerade kein alleiniger Akt der Toleranz.
Der Unterschied zwischen Toleranz und Akzeptanz ist der zwischen Hinnehmen und Annehmen. Erst durch Akzeptanz, durch Annehmen des eigenen Selbst, kann auch der Mitmensch wirklich angenommen und akzeptiert werden für das, was er ist und nicht nur hingenommen, sprich unter Vorbehalt ertragen werden. Dies ist die Basis von Solidarität, die wir gesellschaftlich dringend brauchen, wenn wir nicht das Fortschreiten isolierter Parallelwelten hinnehmen wollen, in denen die alleinerziehende Mutter, das Juristenpaar, die Flüchtlingsfamilie in Deutschland schon heute oft ohne Berührung zueinander leben. Selbstoptimierung als Basis einer solchen Solidarisierung wäre dabei im Übrigen so wenig eigennützig, wie Solidarität uneigennützig ist. Immerhin besagt das Solidaritätsprinzip, dass „derjenige, der sie gibt, im Zweifelsfall auch darauf hoffen kann, sie in Anspruch zu nehmen, wenn er sie braucht“ (Nils Markwardt: Der Anderen Last. Der Freitag vom 4.12.2018). Hört sich das nicht ganz nach dringend benötigter gesellschaftlicher Optimierung an?
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